Robert Musil: Robert Musil Zitat: Flucht in eine verdoppelte Einsamkeit

Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine verdoppelte Einsamkeit bedeutet.


Robert Musil

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Quelle: Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 52. Auflage 2003, S. 41, ISBN: 3499103001

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    Eine Interpretation zu “Robert Musil Zitat: Flucht in eine verdoppelte Einsamkeit

    1. Andreas Tenzer, Köln im Juli 2008

      Die Verwirrungen des Zöglings Törleß lassen vermuten, dass persönliche Erfahrungen aus der eigenen Jugendzeit Robert Musil zu dieser Aussage inspiriert haben. Nach meiner Einschätzung beschreibt das Zitat aber auch allgemeine Befindlichkeiten von Adoleszenten während ihrer ersten ‚großen Liebe‘.

      Sobald Jugendliche die Erfahrung machen, dass die große weite Welt komplizierter und kälter ist, als das warme Nest, in dem sie aufgewachsen sind, regen sich erste Widerstände gegen die zunehmend als fremd empfundene Welt. Wer nicht gerade ein geborener Jasager und unkritischer Alles-Versteher ist, spürt bald, dass da draußen ein anderer Wind weht, als in der behüteten Kinderwelt, in der man sich geliebt und verstanden fühlte und noch naiv glaubte, mit der Zeit alles verstehen zu können.

      Die meisten Kinder erleben ihren ersten großen ‚Weltschock‘, wenn sie auf eine weiterführende Schule kommen, wo alles größer und unpersönlicher und wo die eigene Person nicht mehr der Nabel der Welt ist, sondern sich an deren Peripherie wiederfindet, von wo aus betrachtet die ’neue‘ Welt als fremd und bedrohlich erscheint. Frisch aus dem Nest gestoßen, verfügt das Kind noch nicht über die Gewissheit, alle Realität zu sein, also über Vernunft, wie Hegel sie definiert hat. Der Jugendliche befindet sich in einem Niemandsland zwischen nicht mehr bedingungslos geliebt und verstanden zu werden und die Welt noch nicht verstehen zu können.

      Die erste große als Liebe empfundene Leidenschaft ist dann mit der Illusion verbunden, das Niemandsland blitzartig verlassen zu können, um sich in Gemeinschaft mit der ‚geliebten‘ Person erneut im Zentrum der Welt wiederzufinden. Während es von vielen Zufällen abhängt, wer die auserwählte oder schicksalhaft zugeführte Person sein wird, ist die Tatsache, dass es zur ersten großen Leidenschaft kommt, notwendig, das heißt die einzige nicht zufällige Ursache. Die Notwendigkeit resultiert aus dem unbändigen Verlangen, aus dem Niemandsland herauskatapultiert zu werden, koste es, was es wolle.

      So ist die Gemeinschaft der ersten Leidenschaft keine gereifte, sondern eine erzwungene. Sie ist die Flucht aus der einfachen Einsamkeit in eine verdoppelte. Der Einsamkeit kann nur entgehen, wer sie so lange aushält, bis er sich aus eigener Kraft aus ihr herausgearbeitet hat. Kaum ein Jugendlicher ist in der Lage, diesen Weg zu gehen, weil er eine unermessliche Leidensbereitschaft und -fähigkeit voraussetzt. Stattdessen flüchten die Adoleszenten in eine Leidenschaft, ohne zu ahnen, welche neuen Leiden sie schafft.

      Nach einer ersten Phase des durch wechselseitige Positivprojektionen hervorgerufenen Rosarot-Sehens, verbunden mit der Illusion, der Einsamkeit ein für allemal entkommen zu sein, folgt bald die ernüchternde Erkenntnis, dass die Flucht in das „Zuzweiensein“ auf dem Irrtum basierte, man könnte sein Selbst mit einem anderen teilen, ehe man eines besitzt. Der Jugendliche macht hier die Erfahrung, dass 1 mal null plus 1 mal null gleich null ist.

      Das einzige wirksame Mittel gegen die verdoppelte Einsamkeit ist eine vorausgegangene jeweilige Selbstfindung der sich auf eine Beziehung einlassenden Partner. Ist man erst einmal in einer verdoppelten Einsamkeit gefangen und besiegelt diese auch noch mit Eheringen, dann ist Selbstfindung als Voraussetzung für reife Liebe quasi unmöglich. Angesichts der stetig wachsenden Scheidungsraten scheinen reife Persönlichkeiten heute vom Aussterben bedroht zu sein.

    Wenn Sie ein Zitat interpretieren möchten, können Sie mir Ihren Text gern über das Kontaktformular zukommen lassen. Die Anzahl der Wörter sollte circa 300 bis 600 betragen. Der Text sollte vor allem inhaltlich auf das Zitat Bezug nehmen und nicht nur Ihre Meinung zu dem angesprochenen Thema beinhalten. Andreas Tenzer.