Krishnamurti: Krishnamurti: Die materielle und die psychische Ebene
Auf der materiellen Ebene braucht man natürlich Zeit, um von hier nach dort zu gelangen, aber auf der psychischen Ebene existiert keine Zeit. Das ist eine ungeheuerliche Wahrheit, eine ungeheuer wichtige Tatsache, und wenn man sie entdeckt hat, hat man sich von allen Traditionen freigemacht.
Krishnamurti
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Quelle: Krishnamurti: Das Licht in dir, Econ, München, 2000, S. 118, ISBN: 3612180207
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Alles, was materiellen Gesetzen unterworfen ist, entsteht und vergeht. Materie ist Dasein in der Zeit. Das dürfte kaum jemand bezweifeln. Dagegen ist die Annahme, es gebe auf der psychischen Ebene keine Zeit, in der Tat ungeheuerlich. Von einigen Mystikern abgesehen, hat sich bisher kaum ein Denker diese Sichtweise zu eigen gemacht. Die meisten Philosophen gingen und gehen davon aus, dass es auf materieller wie auf psychischer Ebene ein Nacheinander gibt. Vordergründig betrachtet spricht auch zunächst einiges dafür.
Als körperlich manifestiertes Wesen nimmt der Mensch sinnliche Empfindungen und geistige Vorstellungen nacheinander wahr. Im Wachzustand dominiert meist die historische Sichtweise der Dinge, wenn auch das Denken bereits die Möglichkeit bietet, eine eigene Ereignisfolge zu kreieren, die unabhängig ist von der starren Ereigniskette der sogenannten Tatsachen. Davon noch wesentlich unabhängiger sind Traumbilder, in denen die „reale“ Zeit kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. Der Regisseur unserer Träume – wer immer das sein mag – kann sich offenbar aus allen Zeitebenen bedienen. Er kann auf Elemente zurückgreifen, die bis in die fernsten Fernen von Vergangenheit und Zukunft reichen.
Wenn wir auch die Inszenierungen des Traumregisseurs sowie unsere Erinnerungen im Wachzustand stets an der Schnittstelle Gegenwart wahrnehmen, so schöpfen die Traumbilder doch aus allen Zeitebenen. Aus der Perspektive des Wahrnehmenden erscheinen diese Trauminhalte, als seien sie vergangenen oder zukünftigen Zeiten zuzuordnen. Die Inhalte selbst aber sind absolut zeitlos, vergleichbar etwa mit den Tausenden von Bildern auf einer Filmrolle, die alle der gleichen Zeitebene angehören, solange sie auf der Rolle „eingespult“ sind. Wird dann die Rolle abgespult, sehen wir sie mit unseren Augen als bewegte Bilder, die uns eine Geschichte erzählen.
Es gibt allerdings einen bedeutenden Unterschied zwischen einer Filmrolle und dem, was der Quantenphysiker David Bohm die implizite Ordnung genannt hat, das heißt eine alles Sein und Nichtsein umfassende Urebene, aus der alle wahrnehmungsfähigen Wesen in jedem Augenblick einen Ausschnitt als ihre individuelle Wirklichkeit erleben. Ein anderer Quantenphysiker, David Deutsch, spricht von snapshots aus einem raum- und zeitlosen Kontinuum, die wir im jeweiligen Augenblick bewusst oder unbewusst aufsuchen, und mit denen wir uns dann identifizieren.
Östliche Philosophen wie Laotse oder Buddha haben schon vor über zweitausend Jahren vor solchen Identifikationen gewarnt. Bereits die Vorstellung von einem separaten, dauerhaften Ich sei eine Illusion, da jedes Wesen nur aus einer Kette von augenblicklich wechselnden Identifikationen mit integralen Teilen des Urgrunds bestehe. Buddha hat vehement davor gewarnt, seiner Lehre blind zu folgen, da Erleuchtung nicht gelehrt, sondern nur individuell erfahren werden könne, nämlich als Zustand des Verzichts auf falsche Identifikationen.
Wer erkannt hat, dass es auf der psychischen Ebene keine Zeit gibt, der kann solche Pseudo-Identifikationen durchschauen und wird sich insbesondere von Traditionen fernhalten, die aus ihnen eine Weltanschauung machen, denn: Weltanschauliche Traditionen sind kollektive falsche Identifikationen.