Khalil Gibran: Khalil Gibran: Glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken
Glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.
Khalil Gibran
Über Khalil Gibran, mehr Zitate von Khalil Gibran (212)
Quelle: Khalil Gibran: Der Prophet, Walther, Zürich u.a., 1998, S. 26, ISBN: 3530100161
Im Originaltext: „Und glaube nicht …“
Englische Übersetzung:
Do not think that you can direct the course of love, for love, when it deems you worthy, directs your course.
Bewertungen insgesamt:
✉ Dieses Zitat versenden
Liebe ist nicht nur einer der am häufigsten definierten Begriffe, sondern auch das Phänomen, das sich am wenigsten begreifen lässt. Ließe sich die Liebe definieren, dann müsste sie begrenzen lassen, denn definieren heißt eingrenzen; und um begriffen werden zu können, müsste sie greifbar sein. Da Liebe aber gerade die Kraft ist, die alle Begrenzungen überschreitet, insbesondere die zwischen Ich und Du, ist sie weder definierbar, noch greifbar, noch lenkbar.
Wenn die Liebe einmal unseren Lauf gelenkt hat, das heißt, wenn wir einmal die Gleichzeitigkeit von absoluter Freiheit und vollkommener Verbundenheit erlebt haben, dann wird unweigerlich in uns eine Macht auf den Plan gerufen, die diesen Zustand dauerhaft aufrechterhalten will. Der ewige Gegenspieler der Liebe ist das Ego als die Kraft der absoluten Begrenzung. Sobald dieses die Liebe festnageln will, läuft sie davon. Der Eigenwille ist das Gegenteil von Liebe, wie schon Rumi bemerkte:
‚Fragst du: «Was ist Liebe?», sage ich: «Den Eigenwillen aufzugeben.»‘
Wer die Liebe festhalten will, erleidet unweigerlich das Schicksal des Luzifer, der sich eingebildet hatte, selber das Licht zu sein, das er als Engelsbote in die Welt tragen sollte, und der für diesen Frevel in die Hölle verbannt wurde. Die Liebe hält nur den für würdig, der sich ihr bedingungslos hingibt, und nur diesem lenkt sie bereitwillig seinen Lauf. Doch diese Hingabe ist zugleich die größte und schwerste Aufgabe, der sich ein Mensch stellen kann.
Wenn uns die Liebe ihre Flügel leiht, liegt es dann nicht in der Natur der Sache in Goethes Worte einzustimmen: «Verweile doch, du bist so schön!»? Dieses Verlangen würde die Liebe uns noch nicht verübeln. Wer aber sagt: «Verweile doch, ich bin so schön!», wird sich augenblicklich in der Einsamkeit der Hölle wiederfinden. Und wer sich dann beklagt, dass ihm die Liebe nichts als Leid gebrachte habe, dem würde Saint-Exupéry antworten: «Verwechsle nicht die Liebe mit dem Rausch des Besitzes, der die schlimmsten Leiden mit sich bringt. Denn du leidest nicht unter der Liebe, wie die Leute meinen, sondern unter dem Besitztrieb, der das Gegenteil der Liebe ist.»
Der Gedanke Saint-Exupérys klärt nebenbei auch die Frage, ob das Für-Würdig-Halten der Liebe ein Akt der Parteilichkeit oder Willkür ist. Liebe kennt keine Vorlieben. Sie ist genau in dem Maße präsent, wie der Ego-Faktor nicht präsent ist. Es macht also keinen Sinn, um die Gunst der Liebe zu buhlen. Sie nimmt automatisch den Raum ein, den das Ego freigibt.