Antoine de Saint-Exupéry: Du kannst nicht ein Haus lieben, das ohne Gesicht ist

Du kannst nicht ein Haus lieben, das ohne Gesicht ist und in dem deine Schritte keinen Sinn haben.


Antoine de Saint-Exupéry

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Quelle: Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste, Citadelle, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1951, S. 27, Kap. 3, ISBN: B0011YFL44

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    1 Interpretationen zu “Du kannst nicht ein Haus lieben, das ohne Gesicht ist

    1. Andreas Tenzer, Köln im April 2014

      Dies ist weniger eine Interpretation als eine Meditation zu dem Spruch von Saint-Exupéry. Der Begriff „Haus“ wird hier primär als physische Wohnstätte verstanden, unabhängig von deren Größe und Beschaffenheit, aber auch im übertragenen Sinne als ein ideelles Gebilde, das wir als unser Zuhause empfinden.

      Als wir uns zum ersten Mal begegneten, hielt sich meine Begeisterung für dich noch in engen Grenzen. Du hast sofort begriffen, dass du nicht der Traum meiner schlaflosen Nächte warst, und mir ist dein etwas beleidigter Blick natürlich nicht entgangen. „Sieht so das Spiegelbild meiner momentanen geistigen und materiellen Wirklichkeit aus“?, dachte ich mir. Obwohl die Maklerin deine Schwachstellen geschickt zu kaschieren versuchte, fielen Sie mir natürlich sofort ins Auge. Auch die Schamröte, die in diesem Augenblick dein Gesicht überzog, entging mir nicht, während das den Raum durchflutende Abendrot deine Blöße gekonnt zu tarnen versuchte. Es hat dich überrascht, dass deine Unsicherheit mich nicht irritieren konnte, sondern meine Neugier sogar noch verstärkte. Zwar immer noch von einer gewissen Skepsis dir gegenüber geprägt, ertappte ich mich bei dem Gedanken: „Ein ehrliches Haus“! Und in eben diesem Moment setzte jene zauberhafte Verwebung zwischen uns ein, die uns später zu einer organischen Einheit zusammenwachsen ließ.

      Wir haben uns von Anfang an nichts vorgemacht. Uns war schon damals klar, wie unterschiedlich wir sind, bei aller Liebe. Und aus diesem Grund hätten wir uns gleich bei der ersten Begegnung beinahe irreparabel verkracht. Unsere Gesichter zeigten klare, unverwechselbare Konturen, von eigenwilligem Stolz gezeichnet. Dein Gesicht spiegelte mir meine eigene Kampfbereitschaft, deren defensive Ausrichtung signalisierte, dass wir uns von niemandem manipulieren lassen würden, und dessen offensiv-konstruktive Komponente ausgerichtet war auf ein uns verbindendes Haus, für das wir gemeinsam zu kämpfen bereit waren. Ob wir uns zusammenraufen oder trennen würden, schien damals noch völlig offen.

      Ich kann mich heute an keine konkrete Bemerkung der Maklerin mehr erinnern, während deine bildhaften Worte und verführerischen Gesten mir noch gut in Erinnerung sind. Nie werde ich dieses magische Schauspiel vergessen, bei dem wir uns schon während der Besichtigung häuslich eingerichtet hatten. Wie bei einem klassischen Musikstück, in dem die Töne sich wechselseitig herausfordern, scheinbar um die Vorherrschaft ringen und dabei – halb egogesteuert, halb wie von einer höheren Macht geleitet – einer sich prozesshaft gestaltenden lebendigen Harmonie in den Dienst stellen. Weißt du noch, wie viele Dutzende Male es allein bei der Einrichtung der Küche zwischen uns beiden hin und her ging – wie wir unsere Visionen austauschten, Bilder verwarfen oder aufgriffen und weiter entwickelten? Viele unserer Entwürfe sind mir noch gegenwärtig. Hätte ich genug Begabung und Antrieb sie aufzuzeichnen, dann wäre das eine facettenreiche Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte unserer Küche, in der ich mich dir besonders verbunden fühle, nicht zuletzt wegen der vielen Gaumenfreuden, die du hier für mich bereithältst.

      Du wunderst dich sicher, dass ich manchmal so gemächlich durch unsere Räume schreite wie bei einer Gehmeditation. Das mache ich nur in Zeiten der Ungewissheit, wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob meine Schritte noch von einem tragenden Sinn begleitet werden. Und wenn ich dann mit Kinderaugen in die tausend Gesichter blicke, aus denen du mich anschaust, verlassen alle Zweifel augenblicklich meine Innenräume. Auch wenn ich mir dann immer bewusst bin, dass der hier gespürte Sinn nur ein Punkt in einem Hologramm ist, reicht mir dieser Moment der Geborgenheit, um bei jedem Auftreten so viel Urvertrauen über meine Füße einzuatmen, dass kein Schritt mehr ohne Sinn ist. Wenn man bei meiner Liebe zu dir überhaupt einen Makel finden könnte, dann wäre es vielleicht, dass sie nicht bedingungslos ist: Ich könnte dich nicht lieben, wenn du kein Gesicht hättest und meine Schritte in dir keinen Sinn machten.

    Wenn Sie ein Zitat interpretieren möchten, können Sie mir Ihren Text gern über das Kontaktformular zukommen lassen. Die Anzahl der Wörter sollte circa 300 bis 600 betragen. Der Text sollte vor allem inhaltlich auf das Zitat Bezug nehmen und nicht nur Ihre Meinung zu dem angesprochenen Thema beinhalten. Andreas Tenzer.