Franz Kafka: Kafka Zitat: Wie kann man sich über die Welt freuen
Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet?
Franz Kafka
Über Franz Kafka, mehr Zitate von Franz Kafka (54)
Quelle: Franz Kafka: Er, S. Fischer, Frankfurt am Main 1968, S. 197, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, ISBN: B0000BRUGW
Bewertungen insgesamt:
✉ Dieses Zitat versenden
Was bedeutet kafkaesk ? Eine kafkaeske Situation beschreibt letztlich immer die gleichzeitige Unmöglichkeit, in die Welt und aus der Welt zu fliehen. Es handelt sich um einen Schwebezustand, in dem beide Möglichkeiten theoretisch realisierbar erscheinen, jedoch praktisch unmöglich sind. Bei Kafka zeigt sich diese absurde Pattsituation zwischen zwei in entgegengesetzte Richtungen fliehenden Kräften am klarsten in Bezug auf sein Verhältnis zu Frauen.
Wie wir aus zahlreichen Briefen an seine Geliebten wissen, hat er sich zwei Jahrzehnte lang nach dem Ehebett gesehnt und ist immer wieder davor zurückgeschreckt, sich auf eine feste Bindung im bürgerlichen Sinne einzulassen. Die Flucht in die Welt war für Kafka eine permanente, latente, reale und gleichzeitig unrealisierbare Option.
Psychologen und Germanisten haben Kafka einen Ödipuskomplex unterstellt, wofür das Verhältnis des Schriftstellers zu seinen Eltern, insbesondere zum Vater, hinreichend Argumente liefert. Diese Deutung scheint mir jedoch zu einfach, da sie die existenzialistische und metaphysische Dimension, die Kafkas Leben und Werk prägten, außer Acht lässt. Franz Kafka war ein Sisyphus, der sich bewusst weigerte, den Stein zu Berge zu tragen, ohne im Tal seine Ruhe zu finden.
Menschen, die massenhaft wie die Lemminge in eine Welt der oberflächlichen Freuden flüchten, konnten für Kafka keine nachahmenswerten Vorbilder sein. Aber eine lebenstaugliche Alternative dazu war für ihn ebenso wenig in Sicht. In Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg schreibt er: «Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar.» Der Weg zurück zur verloren gegangenen Naivität einer kindlichen Freude am Leben war Kafka verbaut, ein Schicksal, das er mit allen Erwachsenen teilt. Jedoch weigerte er sich konsequent wie kaum ein anderer, in die Scheinfreuden der Erwachsenenwelt zu flüchten und blieb stattdessen beharrlich vor dem Tor sitzen, hinter dem er eine andere Welt dunkel zu erahnen glaubte.
Die Formulierung scheint im obigen Zitat deutet darauf hin, dass er es nicht für gänzlich unmöglich hielt, jenes Tor zu passieren, auch wenn es ihm persönlich nie gelang. Ein anderes Kafka-Zitat stützt diese Annahme: «Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.»
Der letzte Satz dieses Aphorismus ist vielleicht die beste Definition für eine Lebensweise, die die alten Chinesen wu wei = Handeln im Nicht-Handeln nannten. In der Parabel Vor dem Gesetz ist gerade das Verlangen nach Einlass in das Gesetz (hier im Sinne des altchinesischen Tao zu verstehen) der Grund dafür, warum der Eintritt nicht möglich war. Das Warten auf Godot verhindert die Wahrnehmung seiner ewigen Gegenwart. Dieser Tatsache war Kafka sich zweifellos bewusst. In seinen Betrachtungen heißt es: «Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld …».
Vielleicht hängt die Faszination, die Kafkas Werk auch heute noch auf tiefgründige Menschen weltweit ausübt, damit zusammen, wie er vor dem großen Tor gescheitert ist. Wollen wir uns über die Welt freuen, ohne zu ihr zu flüchten, dann könnten wir aus Kafkas im bewussten Leid gefundenen Fehler die richtige Konsequenz ziehen, nach der sein gesamtes Werk schreit:
An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.