Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Wahlverwandtschaften, Werke, Hamburger Ausgabe Band. 6, Romane und Novellen I, dtv, München, 10. Auflage 1981, S. 384
Was ist Wahrheit? Philosophische Definitionen
Die alten Griechen hatten mit Aletheia – altgriechisch ἀλήθεια – eine eigene Göttin für die Wahrheit. Der Begriff ist abgeleitet vom altgriechischen ἀληθής, was „ohne verheimlichendes Täuschen“ bedeutet, oder in der Übersetzung Heideggers das Unverhüllte. Hegel „definierte“ Wahrheit in einem seiner Hauptwerke als das Ganze, das nur „als System wirklich“ ist:
Das Wahre ist das Ganze.
G.W.F. Hegel
Phänomenologie des Geistes, Ullstein, Frankfurt am Main, u. a. 1970, S. 22
Als das Ganze lässt die Wahrheit sich eigentlich nicht definieren, da der Begriff Definition vom lateinischen definire = begrenzen abgeleitet ist. Nach diesem Verständnis von Wahrheit sind sämtliche Aussagen und Interpretation eingebettet in einen hermeneutischen Zirkel, einem unbegrenzten Verstehensprozess, der seinen Grund in der Tatsache hat, dass jeder Kontext gegen unendlich geht, wie die Mathematiker es ausdrücken würden, oder dass alles mit allem verbunden ist, wie wir es aus der Philosophie und Spiritualität kennen.
Ein einzelner Satz wie etwa ein Zitat, Aphorismus oder Spruch kann deshalb niemals wahr sein. Der auf das obige Hegel-Zitat folgende Satz lautet konsequenterweise: „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Es gibt demzufolge keine Wahrheit, sondern nur Wesen, deren Entwicklung auf das Wahre ausgerichtet ist. Daraus resultiert, dass jedes Verstehen immer ein begrenztes ist und dass die Qualität des Verstehens abhängig ist von der Enge oder Weite des jeweiligen Verstehenshorizonts, das heißt der Nähe zum Wahren und Ganzen.
Wie mit Zitaten umgehen? Aphorismen zur eigenen Lebens-Philosophie
Wenn wir uns mit Zitaten, Aphorismen, Sprüchen oder Lebensweisheiten beschäftigen, kann es also nicht darum gehen, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden, sondern nur darum, unseren individuellen Verstehenshorizont zu erweitern. Dies kann prinzipiell auf zweierlei Weise geschehen: Zum einen können wir unsere Erfahrungen zur Sprache bringen, sei es, dass wir sie anderen im Gespräch unmittelbar mitteilen, sei es, dass wir sie aufschreiben. Dabei stehen dann unsere Erfahrungen am „Anfang“ und die Gedanken am „Ende“.
Umgekehrt können wir aber auch die in Sprache übersetzten Erfahrungen zum Ausgangspunkt nehmen, indem wir über unsere eigenen Gedanken oder die anderer Autoren nachdenken. Diese auch Reflexion genannte Tätigkeit ermöglicht es, unsere bisherigen Erfahrungen mit einem neuen Gedanken zu konfrontieren, der schließlich dazu führen wird, dass wir uns entweder in unserem Denken bestätigt fühlen oder dass wir unser bisheriges Denken aufgeben zugunsten von Gedanken, von denen wir uns neue und bessere Erfahrungen versprechen. Im gelungen Fall kann sich daraus eine eigene Lebens-Philosophie entwickeln, die sowohl subjektiv inspiriert als auch objektiv untermauert ist.
Warum denken wir? Lehrt Not Denken?
Als ein Bemühen um gedankliche Klärung bietet das Reflektieren die Möglichkeit, uns von alten Gedankenmustern zu befreien, auf deren Basis wir eine Wirklichkeit konstruiert haben, die wir nicht mehr wollen. Die formelhafte Aussage des deutschen Philosophen Ernst Bloch „Not lehrt Denken“ ist in der Tat das häufigste Motiv, warum wir über bestimmte Dinge nachdenken. Solange wir in einem Paradies leben, tun wir gut daran, einen großen Bogen zu machen um den Baum der Erkenntnis samt seiner bitteren Früchte. Wo alles im Fluss ist, wäre Denken kontraproduktiv.
Es ergibt nur dort einen Sinn, wo etwas Wesentliches in unserem Leben ins Stocken geraten ist, und nur dann, wenn das Denken qualitativ hochwertig ist. Meine persönliche Philosophie gegen die heute weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten Gedankenlosigkeit und Hyperreflexion lautet deshalb: Man sollte so denken, dass man möglichst wenig denken muss.
Besser Denken durch Zitate und philosophische Aphorismen?
Wie aber kann man die Qualität des eigenen Denkens verbessern? Ein besonders geeignetes Mittel scheint mir darin zu bestehen, sich mit einzelnen prägnanten und aussagekräftigen Gedanken tiefgründig auseinanderzusetzen, seien es die eigenen oder die anderer Autoren. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass man zunächst einmal gutes „Gedankenmaterial“ zur Verfügung hat, welches dazu taugt, die Denkfähigkeit qualitativ zu steigern. Philosophische Zitate sind hierfür in besonderem Maße geeignet.
Als lebendige Elemente für eine Lebens-Philosophie, die uns im alltäglichen Leben Orientierung vermitteln können, sind vor allem Zitate geeignet, die uns stark berühren. Sie sollten keine überflüssigen Sprachbarrieren enthalten, die uns das Verstehen erschweren. Natürlich schließt das nicht aus, dass bestimmte Zitate nur von einem kleinen Leserkreis verstanden werden können, da sie einen weiten Verstehenshorizont voraussetzen. Würden sich die Autoren diesbezüglich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beschränken, dann gäbe es bald nur noch „Literatur-to-go“.
Was tun, wenn wir nicht verstehen?
Dennoch kann ich Leser gut verstehen, die fluchend vor einem Zitat sitzen wie: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ So erging es mir, als ich zwei Jahre nach Studienbeginn mutig-naiv an einem philosophischen Kolloquium über Hegels Phänomenologie des Geistes teilnahm. Völlig verwirrt saß ich dort vor einem kryptischen philosophischen Text in deutscher Sprache, von dem ich nicht einen einzigen Satz verstand. Nach der ersten Sitzung dachte ich mir: „Entweder ist dieser blöde Hegel beschränkt, oder ich bin es.“ Am Ende des Kolloquiums musste ich schließlich eingestehen, dass ich selbst der Beschränkte war.
Wenn Sie also in dieser Sammlung auf „beschränkte“ Zitate stoßen, kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung nur empfehlen, sich entweder zum Verständnis durchzubeißen oder den Text einfach beiseite zu legen, wenn Sie ihn für sinnlos halten, und dabei zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er einfach nur außerhalb der Reichweite Ihres gegenwärtigen Verstehenshorizonts liegt:
„Denn je höher eine Wahrheit ist, von desto höherer Warte musst du Ausschau halten, um sie zu begreifen.„
Antoine de Saint-Exupéry, Die Stadt in der Wüste
Wann verstehst du einen Menschen? Robert Musils Philosophie des Verstehens
Die meisten Menschen verstehen unter „Verstehen“ die Projektion ihrer eigenen Gedanken und Gefühle auf das Objekt ihres Verstehens. Auf diese Weise werden Kommunikationspartner als bloße Stichwortgeber missbraucht, um das im eigenen Innern auf Äußerung lauernde Gedankengut loszuwerden. Das gilt nicht nur für philosophische Gespräche, sondern für die Kommunikation im weitesten Sinne, insbesondere jedoch für die Interpretation von Zitaten, Aphorismen und sonstigen Texten.
Mit Verstehen haben solche Projektionen nichts zu tun, denn um einen Menschen und seine Gedanken wirklich zu verstehen, muss man ihnen den eigenen geistig-seelischen Innenraum frei zur Verfügung stellen, in den hinein sie sich verstehen können. Man selbst ist dabei nur der Zeuge eines Verstehensprozesses, der Ort, wo wirkliches Verstehen sich ereignet:
„Wann verstehst du einen Menschen? Du musst ihn mitmachen […]. Du musst sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus!„
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Unter Interpretationen finden Sie eine Interpretation dieses Zitats von Robert Musil.
Wenn wir anderer Meinung sind …
Ein sicheres Anzeichen für einen engen Horizont des Verstehens ist die Wut, die man empfindet, wenn man ein Zitat zwar zu verstehen glaubt, doch völlig anderer Meinung ist als der Autor. „Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn“, hat Goethe in seinen Wahlverwandtschaften treffend bemerkt. Es ist also völlig natürlich, anderer Meinung zu sein, jedoch wenig hilfreich, sich über die Meinungen anderer aufzuregen.
Beim Umgang mit Zitaten, Aphorismen oder Sprüchen sollte es allein darum gehen zu prüfen, inwieweit eine bestimmte Aussage mit unseren Erfahrungen übereinstimmt. Tut sie dies, dann können wir uns über die Bestätigung von außen freuen, tut sie es nicht oder nur bedingt, dann sollten wir dankbar dafür sein, dass uns eine Gelegenheit gegeben wird, unseren Erfahrungshorizont zu überprüfen und gegebenenfalls zu erweitern. Stellen wir dann fest, dass die Gegenposition für unsere eigene Lebenswirklichkeit keine Bedeutung hat, können wir sie völlig unaufgeregt in Bezug auf unser eigenes philosophisches Koordinatensystem ignorieren.
Können Sprüche heilsam sein?
Der schwierigste doch vielleicht auch lohnenswerteste Umgang mit Sprüchen und Aphorismen ist der, selbst welche zu schreiben. Dabei sollte es zunächst keine Rolle spielen, ob die schriftlich fixierten Gedanken auch für andere von Bedeutung sein könnten.
Als ich im Jahr 2012 einen zwölfjährigen Schüler bat, mir spontan in einem Satz zu sagen, was seine Eltern für ihn bedeuten, kam prompt die Antwort: „Meine Eltern sind Wolken, die mich tragen.“ Dieser Satz hat mich spontan gerührt. Und der Glanz in den Augen des Jungen verriet mir sein Gespür dafür, dass er gerade ein selbst erzeugtes Heilmittel verstärkt hatte, das ihm in Stunden des Zweifels immer eine wertvolle Hilfe sein würde.
Die anglikanische Sprachwurzel von heil ist whole, was sowohl ganz und vollständig bedeutet als auch gesund und heil. Insofern ist jeder klare Gedanke, den wir selbst fassen, ebenso heilsam wie tiefgründige Gedanken anderer, die wir verstehen, die unser Handeln bestimmen und über unsere täglich vertiefte individuelle Philosophie auch unser Leben immer mehr in die Richtung entwickeln, die wir wollen und können.
Der Sinn erbaulicher und kritischer Aphorismen – Philosophie als Leuchtturm im Alltag
Ob es sich nun um unsere eigenen klaren und prägnanten Gedanken handelt, oder um gelungene Formulierungen anderer Autoren: In jedem guten Spruch schlummert ein „Heilmittel“. Das trifft vor allem auf Sprüche zu, die erbaulich sind, sei es, dass sie uns erheitern oder Urvertrauen vermitteln, sei es, dass sie uns konkrete Wege aufzeigen, wie wir unser Leben positiv verändern können. Unter „Zitate Themen“ sowie „Die schönsten Zitate zum Thema Liebe“ finden Sie je fünf erbauliche Zitate mit Bildern und kurzen Texten in Form von meditativen Gedanken. Dabei handelt es sich um eine Momentaufnahme meiner persönlichen schönsten Zitate zum Thema Liebe.
Für alle wichtigen Fragen des Lebens haben sich im Laufe der Zeit bei mir etwa eine Handvoll tiefgründiger philosophischer Zitate herauskristallisiert, die meinem Leben mehr Tiefe und Leichtigkeit verleihen. Es würde mich freuen, wenn Sie in dieser Zitatensammlung ein paar Aphorismen oder Sprüche aufspüren könnten, die Ihnen dabei helfen, Ihr Leben zu bereichern, was auch immer Sie persönlich darunter verstehen mögen.
Auch kritische Aphorismen können in zweifacher Weise heilsam sein. Sie können uns auf negative Umstände aufmerksam machen, denen wir ausgesetzt sind, ohne unmittelbar etwas daran ändern zu können. Auf diese Weise ermöglichen sie uns, eine gelassenere Haltung dazu einzunehmen. Ebenso können sie uns auf negative Umstände hinweisen, die innerhalb unseres Einflussbereichs liegen und durch weises beherztes Eingreifen positiv verwandelt werden können. In diesem Sinne geben sie uns ebenso wertvolle Orientierungspunkte für Veränderungen in unserem Leben wie die erbaulichen Sprüche, denn Verstehen heißt Heilen.
Wenn Sie sich für kritische und erbauliche Sprüche interessieren, die im Volksmund weit verbreitet sind, empfehle ich Ihnen besonders die lateinischen Lebensweisheiten, die Sie unter dem Buchstaben „L“ auf der Autoren-Seite finden, sowie die Zitate von Wilhelm Busch, Epikur und Seneca.