Hermann Hesse – Kurze Biografie
* 2.7.1877 in Calw, Württemberg – † 9.8.1962 in Montagnola, Schweiz
Als Hermann Hesse sein erstes Märchen schrieb, war er gerade zehn Jahre alt. Es war der Beginn einer tiefen geistigen Auseinandersetzung mit sich und der Welt, die bereits in früher Jugend zu Konflikten mit der eigenen Familie und seinem gesellschaftlichen Umfeld führte.
Von seinem dreizehnten Jahr an sei ihm klar gewesen, schreibt Hesse in Kurzgefasster Lebenslauf, dass er «ein Dichter oder gar nichts werden wolle» und nennt sowohl das Motiv als auch die Konsequenzen seiner Entschlossenheit: «Der vorherige Musterschüler Hesse wurde von da an ein schlechter Schüler, er wurde bestraft, er wurde hinausgeworfen, er tat nirgends gut, machte sich und seinen Eltern Sorge um Sorge – alles nur, weil er zwischen der Welt, wie sie nun einmal ist oder zu sein scheint, und der Stimme seines eigenen Herzens keine Versöhnung sah.»
So verwundert es nicht, dass der rebellische Schüler im Alter von fünfzehn Jahren nach panikartiger Flucht aus dem Internat in einem völlig verwirrten Zustand aufgegriffen und auf Wunsch seiner Eltern wegen akuter Suizidgefährdung in einer Nervenheilanstalt untergebracht wurde.
Mit achtzehn Jahren begann Hermann Hesse eine Lehre zum Buchhändlergehilfen und las nebenbei vor allem die Klassiker Goethe und Schiller, nach Abschluss der Lehre auch Werke der deutschen Romantik. In seiner knapp bemessenen Freizeit verfasste und veröffentlichte er erste Gedichte und Prosastücke, die sich jedoch sehr schlecht verkauften. Erst nachdem im Jahre 1904 Hesses erster Roman im Fischer Verlag erschienen war, konnte er von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben.
Seine zwischen 1917 und 1930 veröffentlichten Romane fanden zwar in Literaturkreisen große Beachtung, wurden jedoch von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert: 1917 Demian, 1922 Siddhartha, 1927 Der Steppenwolf und 1930 Narziß und Goldmund. In letzterem Roman finden wir eine Stelle, die von zentraler Bedeutung für das Gesamtwerk des Autors ist:
«Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst.»
Hermann Hesse, Narziß und Goldmund, Gesammelte Werke Bd. 8, 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 48
Die Tatsache, dass das Thema Inneres Kind in Hesses Romanen und Erzählungen immer wieder auftaucht, hängt zweifellos mit der schwierigen Kindheit des Autors zusammen. Es allein darauf zurückzuführen, würde dem Autor aber nicht gerecht. Außer in seinem autobiografischen Roman „Unterm Rad“, wo wir viel Konkretes über die Verletzungen erfahren, die ihm vor allem von seinen Schullehrern zugefügt wurden, behandelt Hesse das Thema „Kind“ als ein Archetypus, der dem Leser in seiner je eigenen Lebenswelt Identifikationsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Auf diese Weise kommt man zwangsläufig mit den Verletzungen des eigenen inneren Kindes in Berührung und kann zugleich hautnah mitverfolgen, wie es dem Autor gelingt, das Kind in sich durch einen intelligent-sensiblen Drahtseilakt zwischen Rebellion und Anpassung vor den Attentatsversuchen familiärer und gesellschaftlicher Kindheitsräuber zu retten.
In der Zeit der Weimarer Republik litt Hesse extrem unter Schicksalsschlägen im familiären Umfeld wie auch unter dem vorherrschenden Nationalismus und Militarismus in Europa, vor allem in Deutschland. Seine tiefe Empfänglichkeit für fernöstliche Lehren, die während eines Aufenthalts in Indien im Jahre 1911 neu belebt worden war, bewahrte den Autor vor Verzweiflung und Zusammenbruch. Dennoch begab er sich in den Jahren der Zwischenkriegszeit mehrfach in psychologische Behandlung. Das war der Preis, den Hermann Hesse für seine „Durchlässigkeit“ und Sensibilität bezahlen musste. Er war eher bereit, seine Identität gänzlich zu verlieren, als sich eine falsche anzueignen oder aufzwingen zu lassen.
Die Werke des Autors sind durchgängig geprägt von einer tiefgründigen Innerlichkeit, von Seelenlandschaften, aus denen die Wirklichkeit nicht ausgesperrt, sondern ästhetisch-mystisch transzendiert wird. Das Reale diente ihm als Stoff für eine seelisch-geistige Ebene, in der alles Zeichen ist, wie Robert Musil es einmal formuliert hat. Zu den wenigen westlichen Autoren, die Hesse nachhaltig inspirierten, gehörte der Tiefenpsychologe C.G. Jung – bei dem er sich einer auf Individuation ausgerichteten Behandlung unterzog – und besonders dessen Lehre von den Archetypen. Stärker und tiefer als von der westlichen Psychologie wurde er jedoch Zeit seines Lebens von den indischen Weisheitslehren, dem Taoismus und der christlichen Mystik beeinflusst.
Für seinen letzten großen Roman „Das Glasperlenspiel“ aus dem Jahr 1943 wurde Hermann Hesse 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Danach reduzierte er das Schreiben drastisch und veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahre 1962 nur noch wenige Gedichte und Erzählungen. Zu diesem Zeitpunkt gehörte er bereits zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Die höchsten Auflagen erzielten seine Werke jedoch erst nach seinem Tod in den 70er Jahren. Damals hatte der Autor nicht nur in Studentenkreisen Kultstatus, sondern wurde auch an den Oberstufen deutscher Gymnasien viel gelesen.
Die Besonderheit des Schriftstellers und Menschen Hermann Hesse bringt Manfred Hausmann mit wenigen Worten auf den Punkt (Covertext zu Band 3 der Gesammelten Werke):
«In der Spannung dieses Stils offenbart sich der ganze Mensch: der schwäbischen Heimat verhaftet und doch ein Weltbürger des Geistes, weich und sinnenhaft und doch ein Asket, ein Müßiggänger und Zeitvergeuder und doch unentwegt zur Arbeit bereit, ein vom Leben in ungewöhnlichem Maße Gequälter und doch ein Jasager, ein Einsiedler und doch ein Menschenfreund, einer, der es nicht lassen kann, die Wahrheit zu sagen, und der doch liebenswert bleibt.»
Mit seiner bildhaften Sprache von lebendiger Fülle und zeitloser Schönheit fasziniert Hermann Hesse noch heute unzählige Leser auf der ganzen Welt, darunter vor allem die jüngeren und die älteren. Es weht ein Geist der ewigen Jugend durch Hesses Werk, der an kein Lebensalter gebunden ist und der beim Tod nicht halt macht. Mich berührt dieser Geist auf besonders faszinierende Weise in dem berühmten Spruch aus dem Gedicht Stufen:
«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.»
Herrmann Hesse, Gedichte, Gesammelte Werke Bd. 1, 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 119