Laotse: Laotse: Der Wissende redet nicht. Der Redende weiß nicht.
Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.
Laotse
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Quelle: Laotse: Tao te king, Übersetzung von Richard Wilhelm, Diederichs, Sonderausgabe, München 1998, S. 99, Kap. 56, ISBN: 3938484969
Englische Übersetzung von Stephen Mitchell, Lao-tzu, Tao te ching, NY, Harper&Row, 1988. – Tose who know, don’t talk./ Those who talk, don’t know.
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Solange wir an andere denken, an Politiker, Sonntagsredner usw., dürfte es uns nicht schwerfallen, Laotse zuzustimmen. Doch reden wir nicht selber ununterbrochen? Wenn der alte Chinese mit seinem Spruch richtig liegt, würde das bedeuten, dass wir unsere Ignoranz permanent öffentlich zur Schau stellen. Jedes Wort aus unserem Munde wäre eine Demonstration unseres Unwissens, und unser Wissen könnten wir nur durch Schweigen zum Ausdruck bringen.
Radikales Schweigen wäre jedoch nur praktikabel, wenn die Dinge auch ohne Worte im Lot sind und bleiben. Dies träfe zum Beispiel auf einen Erimiten zu, der bei der Wahl seiner Lebensform explizit oder stillschweigend ein Schweigegelöbnis in Kauf nimmt. Auch in einer reinen Gemeinschaft von Wissenden könnte das konsequente Schweigen funktionieren, weil jeder jederzeit weiß, was zu tun und zu unterlassen ist. Da solche Lebensformen aber in einer Welt der Hyperkommunikation eine zu vernachlässigende Größe sind, stellt sich die Frage, was Laotse unter reden versteht.
Umgangssprachlich werden die Begriffe reden und sprechen oft synonym verwendet. Doch gibt es gute Gründe dafür, warum der Nachrichtensprecher nicht Nachrichtenredner heißt und warum Kleinkinder nicht reden, sondern sprechen lernen. Wenn wir von reden sprechen, setzen wir voraus, dass der Redende eigene Gedanken ausspricht und dass diese eine über die jeweilige Situation hinausgehende Bedeutung haben. Dies wäre zum Beispiel nicht der Fall, wenn wir jemanden auffordern, ein Fenster zu schließen. Sobald aber derjenige in ausschweifenden Worten erklärt, welche negativen Folgen ein zu lange geöffnetes Fenster nach sich ziehen könnte, dann hat er bereits angefangen zu reden.
Es ist also vor allem das Erklären und Argumentieren, worin sich reden und sprechen voneinander unterscheiden. Hätte Laotse sich für die Formulierung entschieden:
Der Wissende argumentiert nicht.
Der Argumentierende weiß nicht. …
dann wäre sein Spruch in der westlichen Welt vermutlich sowohl auf weniger Beachtung als auch Widerstand gestoßen, und zwar deshalb, weil im westlichen Denken der enge Zusammenhang zwischen reden und argumentieren nicht so präsent ist wie bei den östlichen Denkern.
Spätestens seitdem der deutsche Philosoph Jürgen Habermas auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Interesse hingewiesen hat, dürfte auch im Westen klar sein, dass Reden vor allem bedeutet, seine eigenen Interessen kund zu tun. Und nur in diesem Kontext erschließt sich die Bedeutung dessen, was Laotse mit seinem Spruch ausdrücken wollte. Im Taoismus hat der Wissende oder der Weise nämlich keine eigenen Interessen. In dem, was er denkt und wie er handelt, kommt nichts anderes zum Ausdruck als die Intentionalität das Tao im Sinne des Ganzen. Was sollte der Wissende also reden und argumentieren, wo es kein Interesse gibt, jemanden zu überzeugen oder zu instrumentalisieren?
Der Redende dagegen weiß nicht, dass er ein Instrument des Ganzen ist. Er glaubt, durch geschicktes Argumentieren das Schicksal zu seinem eigenen Vorteil beeinflussen zu können. Vordergründig und vorübergehend kann ihm das auch gelingen, wenn ihm genügend Dumme folgen. Doch auf lange Sicht sind die Schlauen selber die Dummen, wie Laotse an andere Stelle klarstellt:
Was im Einklang mit dem Tao ist, bleibt.
Erzwungenes wächst eine Weile,
doch dann welkt es dahin.
Es genügt eine Mischung aus Spürbewusstsein und gesundem Menschenverstand, um die fletschenden Zähne der Redenden zu sehen, sobald sie den Mund aufmachen. An ihren Absichten werdet ihr sie erkennen, oder wie Goethe es in Torquato Tasso formuliert hat:
So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.