Marcel Proust: Der Körper schließt den Geist in eine Festung ein

Der Körper schließt den Geist in eine Festung ein; bald aber wird diese von allen Seiten belagert sein und zuletzt muss der Geist sich ergeben.


Marcel Proust

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Quelle: Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bände 1-3, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000 , Bd. 3, Die wiedergefundene Zeit, S. 4178, ISBN: 3518397095

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    1 Interpretationen zu “Der Körper schließt den Geist in eine Festung ein

    1. Andreas Tenzer, Köln im März 2007

      «Ich bin hungrig», spricht der Körper zum Geist, „geh‘ hin und beschaffe mir Nahrung.“ „Ich bin sexuell erregt, suche mir ein Objekt der Befriedigung.“ „Ich fühle Schmerz, besorge mir ein Mittel zur Linderung.“ – Permanent erteilt der Körper dem zugehörigen Geist Aufträge zur Beschaffung von Wohlgefühl. Der Geist gehorcht und beschränkt seine Aktivitäten mehr und mehr auf die beschränkten Bedürfnisse des Körpers. Bald ist er in dessen Festung eingeschlossen. Will er ausbrechen, wird er feststellen, dass er von allen Seiten belagert ist. Wer aber ist der Feind, der ihn umzingelt?

      Der Körper kommt nicht infrage, da er ganz und gar Festung ist und gar nicht die Möglichkeit hat, diese zu verlassen. Zwar produziert er stets neue Bedürfnisse, aber das kann er nur innerhalb der Festung. Diese kann allein der Geist verlassen. Also ist der belagernde Feind der Geist selbst. Es ist ein Geist, der sich so vollkommen mit den Bedürfnissen des Körpers identifiziert hat, dass ihm Wohlgefühl alles und Freiheit nichts bedeutet. So produziert er über die relativ bescheidenen primären Bedürfnisse des Körpers hinaus sekundäre geistige Bedürfnisse wie Ruhm, Ehre, Macht und Besitz, deren Pfeile und Kanonen von außen auf die Festung ausgerichtet sind. Der Geist hat sich mehr oder weniger freiwillig ins Gefängnis begeben und kapituliert schließlich vor sich selbst.

      Solange sie ihre Gefangenschaft nicht bemerken und nicht allzu sehr darunter leiden, können Körper und Geist sich durchaus eine Zeit lang in ihrer Festung wohlfühlen, die ihnen relative Sicherheit und optimalen Schutz vor Freiheit bietet. Werden aber die „Festungsgenossen“ sich ihres Lebens als Siechtum in Gefangenschaft bewusst – was oft im Alter, gelegentlich erst auf dem Sterbebett geschieht -, dann ist alles um sie herum dunkel und fest wie in einem Schwarzen Loch. Auf ihrem Grabstein könnte stehen:

      Der Geist schließt den Körper in eine Festung ein; bald aber wird diese von allen Seiten belagert sein und zuletzt muss der Körper sich ergeben.

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