Eine Interpretation zu “Khalil Gibran: Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.

  1. Andreas Tenzer, Köln im November 2007

    Heute sind die Menschen froh, wenn sie Arbeit haben, aber die wenigsten arbeiten mit Freude. Was sind die Triebkräfte, die die Mehrheit zum Arbeiten bewegen? Neben dem menschlichen Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit für sich und die Familie scheinen die folgenden Beweggründe zunehmend maßgeblich zu sein: Gier nach Besitz und Konsum, Prestigebedürfnis, Streben nach Macht und als negativer Stachel des Antriebs die Angst, die Objekte der Begierde nicht zu bekommen oder zu verlieren.

    Nachdem der „Gott des Westens“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer langen schweren Krankheit erlegen war, haben diese Motive als Antriebskräfte zur Arbeit immer totalitärere Züge angenommen. Die daraus resultierende Verlieblosung der Welt wird allgemein gleichermaßen beklagt wie als ein schicksalhaftes Naturereignis hingenommen, offenbar, weil heute weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass es zur freiheitlichen Zwangsgesellschaft der Moderne keine Alternative gibt.

    Wohl kaum ein anderer Denker und Poet des 20. Jahrhunderts hat so klar wie Khalil Gibran erkannt, dass unsere Gesellschaft an der „Immanenzpest“ erkrankt ist durch die radikale Verbannung immaterieller Werte aus dem Leben des Einzelnen und der sozialen Gemeinschaft. Nur eine Arbeit, deren Triebkraft die Liebe ist, könne einem Menschen Freude bereiten. Als transzendente Kraft, die uns in Berührung bringt mit dem Unvergänglichen, sprengt sie die Ketten des materiellen Determinismus und verleiht unserer Seele Flügel. Was wir ohne Liebe tun, ist keine Arbeit, sondern Selbstversklavung durch Versklavung des Seienden selbst. Wer nur aus materiellem Interesse arbeitet, ist Materie.

    Da unsere Gesellschaft wesentlich eine materielle ist, sind die Arbeiten selten, die man mit Liebe tun könnte und für die man gleichzeitig so bezahlt wird, dass man davon leben könnte. „Lieblose“ Jobs gibt es dagegen en masse. Was sollte nun jemand tun, der mit Liebe in der Natur-, Kranken- und Altenpflege, der Kinderbetreuung oder in anderen Tätigkeitsbereichen mit Gewinn für die Gemeinschaft arbeiten könnte, die Gesellschaft aber nicht bereit ist, sein Engagement ausreichend zu entgelten? Soll er sich dann vom Staat zur Zwangsarbeit verurteilen lassen? Dazu Gibran unmittelbar nach dem hier interpretierten Zitat: «Denn wenn ihr mit Gleichgültigkeit Brot backt, backt ihr ein bitteres Brot, das nicht einmal den halben Hunger des Menschen stillt.»

    Wer von einem Call-Center aus ungefragt Leute belästigt oder als Publizist im weitesten Sinne Lügen verbreitet, backt ein bitteres Brot. Wenn er stark genug ist, sollte er lieber mit einem gekürzten Hartz IV-Satz darben, als Zwangsarbeiter zu werden. Und wenn materialistische Politiker die Daumenschrauben noch enger anziehen sollten, täte er besser daran, auf der Straße um Almosen zu betteln, was im Unterschied zur Zwangsarbeit keine Schande wäre.

    Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen uns aus diesem Dilemma befreien? Eine solche Maßnahme würde voraussetzen, dass die Werte „Liebe“ und „Freiheit“ gesellschaftliche Anerkennung fänden. Die Chancen dafür stehen zurzeit eher schlecht, da diese Werte mit einem dogmatischen Materialismus – auch in christlichem Gewand – unvereinbar sind. Der als Idealismus getarnte sozialistische Materialismus ist als ideologische Pädagogik des Zwangs zurecht gescheitert. Ein ähnliches Schicksal könnte auch unserer Gesellschaft drohen, wenn die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die kritische Grenze überschreiten sollte. Dagegen könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen möglicherweise Kräfte freisetzen, die sich auch im ökonomischen Sinne rechnen, denn: Nur was man mit Liebe tut, tut man gut. Kann eine Volkswirtschaft wie die unsrige, die in besonderem Maße auf die Qualität ihrer Produkte und Dienstleistungen angewiesen ist, es sich dauerhaft leisten, diesem Grundsatz zuwiderzuhandeln?

Wenn Sie ein Zitat interpretieren möchten, können Sie mir Ihren Text gern über das Kontaktformular zukommen lassen. Die Anzahl der Wörter sollte circa 300 bis 600 betragen. Der Text sollte vor allem inhaltlich auf das Zitat Bezug nehmen und nicht nur Ihre Meinung zu dem angesprochenen Thema beinhalten. Andreas Tenzer.